(2010 Dec 6) Radio FM4 publishes 'Brennen muss Salem'

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(2010 Dec 6) Radio FM4 publishes 'Brennen muss Salem'

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https://fm4v3.orf.at/stories/1669882/index.html
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Brennen muss Salem

Erstellt am: 6. 12. 2010 - 13:34 Uhr
Christian Fuchs

Wenn die Electrogespenster in der Hexendisco herumspuken: Notizen zum Witch-House-Phänomen, mit einem Gastauftritt von Dr. Nachtstrom.

House of Pain, 12.1. 20100 (22-0)
Witch House, dieser Begriff, der schon das ganze Vorjahr durch einschlägige Blogs und Magazine, jawohl, geistert, steht für düstere und vernebelte Zeitlupenklänge aus der Elektronik-Vorhölle. Und für Projekte mit so herrlich illustren Namen wie White Ring, oOoOO, Modern Witch, Mater Suspiria Vision, Creep, /▲▲▲\, Balam Acab oder die Genrepioniere Salem.


Es gibt Kunst, die muss man sich erst langwierig erarbeiten, bevor irgendwann ein persönlicher Bezug entsteht. Das kann durchaus mühsam sein. Und ist auch nicht selten mit Enttäuschungen verbunden, wenn der Funke einfach nicht überspringen will.

Und dann ist da im Gegensatz die spontane Euphorie, der blitzartige Rausch, beispielsweise ein Buch zu lesen, das wie aus dem eigenen Kopf herausgeschnitten wirkt. Diese Ahnung einer möglichen Seelenverwandschaft mit einem bestimmten Autor, Regisseur oder Musiker, sie beflügelt.

Mein verehrter House-of-Pain-Kollege Dr. Nachtstrom und ich, wir brauchen ihn beide in bestimmten Abständen, diesen Kick, wenn plötzlich ein Film oder eine Band bei uns sozusagen offene Türen einrennt. Wenn alle richtigen Versatzstücke auf perfekte Weise zusammenpassen.

Taucht dann sogar eine ganze "Bewegung" auf, deren Referenzsystem unseren (Alb-)Träumen verdammt nahe ist, stellt sich ein spezielles Hochgefühl ein.

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Mater Suspiria Vision

Nur mal als Gedankenspiel: Warum nicht Hip Hop auf ein schauerliches Tempo herunterpitchen, das die durchschnittlichen Fans des Genres verstört und abstößt, so wie es diverse dunkle Soundalchimisten in den 90ern bereits versucht hatten? Warum nicht dieses Slow-Motion-Gerüst mit stockdunklen Basslinien direkt aus der Electrohölle kombinieren? Und dazu noch Synthieklänge, die einerseits Assoziationen zu sentimentalem 80er-Pop herstellen und auf der anderen Seite mit verbotenen Tranceflächen kokettieren.

Warum sich zu dieser herrlich perversen Kombination mit perfektem Gesang herumschlagen, der doch längst im Besitz der globalen Castingshow-Mafia ist? Reicht nicht auch irgendein mysteriöses Gemurmel, durch etliche Effektkasteln gejagt?

Und macht es nicht enormen Spaß, diese schnell im Schlafzimmer hingemurksten Tracks mit einem Wust an Zitaten aufzuladen, mehr noch, eine ganze fremde und seltsame Welt aus filmischen und literarischen Einflüssen über die kargen Stücke drüberzustülpen? Haben nicht die hochgeschätzten Pioniere des Industrial, Bands wie Throbbing Gristle oder Coil, ihre Musik mit sinistren Manifesten und Querverweisen erst richtig elektrisierend hochgejazzt?

Solchen und ähnlichen Assoziationsketten haben Doktor Nachtstrom und myself, wir zwei Anhänger von Kitsch und Katharsis, Abgründen und Sonnenaufgängen, Horrorfilmgrind und bombastischer Schönheit, uns schon etlichen an illuminierten Abenden hingegeben. Im Fall der eben beschriebenen Mixtur sind uns einige Bands, vorzugsweise amerikanischer Herkunft, aber zuvorgekommen. Welcome to the Witch House, meine Damen und Herren.

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Mater Suspiria Vision

Wer sich ausschließlich für gediegene, dem Diktat der Zeitlosigkeit folgende Songwriter-Kunst interessiert, kann spätestens jetzt aufhören zu lesen. Witch House, dieser Begriff, der schon das ganze Jahr durch einschlägige Blogs und Magazine, jawohl, geistert, steht für einen typischen Sound der Stunde, für das unmittelbare Hier und Jetzt. Viele der Acts entstanden erst in den letzten Monaten, die diffuse Szene verändert sich ständig.

Was Projekte wie mit so herrlich illustren Namen wie White Ring, oOoOO, Modern Witch, Mater Suspiria Vision, †‡† (aka Ritualzzz), , Creep, Balam Acab oder die Genrepioniere Salem eint, ist eine Vorliebe für elektronische Klänge ohne jeglichen Hochglanz-Schimmer. Mit billigstem Equipment und verstaubten alten Vintage-Gerätschaften wird drauflos produziert, eine punkige DIY-Attitude regiert, musikalisches Know-how ist ebensowenig zwingend wie das Lesen der Bedienungsanleitungen.

Umso zentraler scheint sämtlichen Protagonisten, ob man das Ganze jetzt als Witch House, Ghost Drone, Haunted House oder Drag klassifiziert, eine Fetischisierung der Langsamkeit. Bei all diesen bewusst mysteriösen Formationen mit den Google-feindlichen Symbolnamen müssen die Bassdrums im Schneckentempo dahinpochen und stolpern. Diese Obsession teilt man mit den sanfteren, verträumteren Geschwistern aus der Chillwave-Ecke.

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White Ring

Oh die liebe Zeitlupe. Wenn meine kleine private These stimmt, dass die Nullerjahre das Spiegelbild der Achtziger waren und wir jetzt in eine postmodern verdrehte Version der Neunziger eintauchen, dann sind Chillwave und Witch House der neue Trip Hop. Ab 1995 drosselten viele elektronische Künstler massiv das Tempo, die Grooves der Black Music verschmolzen mit hypnotischem Ambient. Spooky und spannend war das anfangs, dank manischer Typen wie Tricky, irgendwann wurde belangslose Kaffeehaus-Lounge-Berieselung draus.

Von der blubbernden Coffeetable-Phase ist Witch House noch sehr weit entfernt. Weil sich Zitate aus Okkultismus, Horrorfilmen, Industrial und Psychedelik durch das Genre ziehen, bieten sich eher Sexorgien auf bösesten Drogen (Salem, Mater Suspiria Vision) oder kleine Seancen im Freundeskreis (Balem Acab, White Ring) zu dieser Musik an.

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Mater Suspiria Vision

Trotzdem möchte ich bei dem Vergleich bleiben. So wie Trip Hop aus einer Verweigerungshaltung entstanden ist, geht es auch im Hexenhaus um Entschleunigung als Gegenentwurf zu aktuellem Brachial-Electro, zu funktionaler Clubmusik und der Dauerhysterie des Gegenwartspop. Im Hexenhaus tanzt man lieber tribalistisch in Slow Motion ums digitale Feuer.

Hip Hop, in einer bewusst dilettantischen, verarmten Harmony-Korine-Variante, ist schließlich das weitere Bindeglied zwischen den trippigen Neunzigern und den verhexten Elferjahren. Auch wenn Witch-House-Acts meistens weiß und männlich sind und teilweise wohl dicke Brillen vom Nonstop-Computerspielen haben, steht schwarze Musik am Anfang etlicher Tracks.

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Salem

Salem, die es mit ihrem asozialen Spuk-Hop in kürzester Zeit in alle Lifestylegazetten des Planeten schafften, beziehen sich direkt auf den zerstückelten Houston-Hip-Hop von DJ Screw. Halbwegs okaye Rap-Skills sollte man sich aber nicht erwarten. Die blasse junge Dame und die noch blasseren beiden Buben, die gerne mit Crackklischees aus dem Trailerpark posieren, garnieren ihre Beat-Fundamente mit eher fröstelnden Zutaten.

In ihren besten, weil eindringlichsten Momenten, klingen Salem, wie wenn die Wesen aus "Paranormal Activity" zusammen mit der Blair Witch und dem Mädchen aus "The Ring" im Drogenrausch Kanye West covern würden. Ziemlich super also.

Wenn sich Witch House jetzt wie das im wahrsten Sinne todernste Hirngespinst miteinander vernetzter Schlafzimmermusiker und Blogger anhört, dann sollte man eine gewisse Ironiekomponente nicht außer acht lassen.

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Mater Suspiria Vision

Ein besonders beliebter Sport in Hexenhauskreisen, erzählte mir Dr. Nachtstrom unlängst, ist etwa das Runterpitchen von 80er-Hits oder auch aktuellen Chartsknallern auf ein Minimaltempo. Da entwickeln dann bestimmte Italoschlager eine ganz neue bizarre Gänsehautqualität oder ein Justin-Bieber-Song darf schon mal auf eine halbe Stunde gedehnt werden.

Unfreiwillig humoristisch dagegen sind manche Liveauftritte von Salem, wo die mystifizierende Seifenblase angesichts der kasperlhaften Figuren auf der Bühne zerplatzt. Dabei ist es gerade das abgewrackte Trio aus Chicago, das als einziges mit Authentizität und Junkie-Chic hausieren geht. Ansonsten verstecken sich die eher nerdigen Hexenhäusler lieber hinter Symbolen und Alter Egos.

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Salem

Wer jetzt näher ins Reich der Drones und darken Tracks eintreten will, muss nicht bis zur Geisterstunde warten. Als ausführlichere Einstiegshilfe sei ein toller Artikel des heimischen Magazins "The Gap" empfohlen. Und natürlich das Blog des Herrn Kollegen Nachtstrom, der auch mit den Labelmachern im Hintergrund aufschlussreiche Interviews führt.

Mit ▲gent C∞per munkelt man übrigens bereits von einer Witch-House-infizierten Wiener Band. Wenige Musikstile passen für mich besser zu den heimischen Wäldern und Landschaften, erst recht zu dieser Jahreszeit, auch die eher isolierte Arbeitsweise scheint prädestiniert für österreichische Klangtüftler.

Mal sehen, wie sich der Winter of Witch House entwickelt, das FM4-(Witch)House of P▲in wird im Jänner jedenfalls eine Bestandsaufnahme wagen. Gutes Gruseln!

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